Meinung: Warum Kinder kulturelle Bildung brauchen – gerade jetzt

Meinung: Warum Kinder kulturelle Bildung brauchen – gerade jetzt

Darf es bei der Förderung und Unterstützung von Kindern nach zwei Jahren Pandemie ein Abwägen geben, welche Bildungsthemen besonders und welche weniger wichtig sind? Nein, schreibt Andreas Knoke im AUF!leben-Meinungsbeitrag. Kulturelle Bildung gehört zum Kern einer guten und ganzheitlichen Bildung. Sie ist nicht verhandelbar und wird gerade jetzt dringend benötigt.

Als jemand, der sich seit mehreren Jahren für kulturelle Bildung einsetzt, bin ich erfreut, wie viele unterschiedliche und qualitätsvolle Projekte derzeit zustande kommen, in denen Kinder und Jugendliche künstlerisch-ästhetische Erfahrungen machen – unter anderem gefördert über den AUF!leben-Zukunftsfonds. Die Freude darüber hat auch damit zu tun, dass die Corona-Pandemie von einem lauten Nachdenken begleitet wird, was für eine „gute Bildung“ und das Aufwachsen von Kindern vermeintlich wichtig, notwendig und relevant sei. Oder umgekehrt formuliert – was als verzichtbar gelten kann und im Zweifelsfall zurückgestellt werden muss.

Personal und Zeit gehörten schon vor der Pandemie zu den wertvollsten und zugleich knappsten Ressourcen im Bildungsbereich. Deswegen ist die Frage nicht neu, worin man beides am besten investiert. Unwidersprochen lautet die wohl überzeugendste Antwort: In gute Bildung und gesellschaftliche Teilhabe für alle Kinder von Anfang an.

Was aber bedeutet das konkret und wie lässt sich dieses Versprechen einlösen? Und müssen wir wirklich (andere) Prioritäten setzen, damit nach der Corona-Pandemie die alten und neuen Ungerechtigkeiten kleiner und die Zukunftschancen gerechter verteilt werden?

Von einzelnen Themen zu einem ganzheitlichen Bildungsverständnis

Obwohl es in den vergangenen Jahren durchaus Fortschritte gab, haben hochwertige Angebote kultureller Bildung immer noch keinen festen Platz im Alltag vieler Kinder. Dafür gibt es mehrere Gründe, die durch die Corona-Pandemie eher verstärkt als verursacht wurden: Kooperationen zwischen Bildungs- und Kultureinrichtungen bzw. zwischen Pädagog:innen, Kunst- und Kulturschaffenden sind für gute kulturelle Bildung so essentiell wie aufwendig.

Zudem erfordert kulturelle Bildung den Einsatz der oben genannten knappen Ressourcen, an denen es nicht nur in Kitas, Schulen oder der Kinder- und Jugendarbeit mangelt, sondern auch im Kunst- und Kulturbereich. Und zur Wahrheit gehört schließlich auch, dass wir von einer ganzheitlichen und lebensweltorientierten Bildung in der politischen und pädagogischen Realität weit entfernt sind. Wir verteilen Verantwortung auf Ressorts, organisieren Schule in Fächern und sortieren Bildungsaufgaben nach Themen. Auch deshalb müssen wir uns vermeintlich immer wieder entscheiden: Mathe oder Kunst, hard skills oder soft skills, von allem ein bisschen oder besser weniges und dafür gründlich.

Was kulturelle Bildung zur Pandemiebewältigung beiträgt

Es gibt aber auf der anderen Seite viele Gründe, die dafürsprechen, kulturelle Bildung gerade jetzt zu stärken und die dafür notwendigen Entwicklungen auf allen Ebenen zu befördern. Zwölf Argumente für Kulturelle Bildung benennt die Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ). Im Programm Kulturagenten für kreative Schulen Berlin wurden die 10 guten Gründe für Kulturelle Bildung mit Blick auf die Einschränkungen der Corona-Pandemie aktualisiert. Und sieben gute Gründe speziell für den Vorschulbereich finden sich in einem 2021 veröffentlichten Positionspapier des Netzwerks Frühkindliche Kulturelle Bildung. Allen ist gemeinsam, dass sie kulturelle Bildung nicht als Konkurrenz zu anderen Bildungsthemen verstehen, sondern als das beschreiben, was sie ist bzw. sein sollte: ein wichtiger unverzichtbarer Bestandteil guter und ganzheitlicher Bildung.

Wer die Argumente und Gründe liest, erkennt schnell die vielfältigen Potentiale und findet zahlreiche Hinweise, warum und wie kulturelle Bildung auch zur Pandemiebewältigung von Kindern und Jugendlichen einiges beitragen kann:

Kulturelle Bildung stärkt Kinder und Jugendliche – auch in und für Krisenzeiten

In einem Impulsvortrag zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf junge Lebensentwürfe fasste Prof. Dr. Wolfang Schröer beim 2. Perspektivdialog im Programm AUF!leben! eine Studienerkenntnis wie folgt zusammen: „Junge Menschen, die zum Beispiel trotz allem noch Räume für Austausch, Selbstwirksamkeit und gemeinsames Handeln wahrnehmen, fühlen sich durchschnittlich weniger durch die Krise belastet.“

Kulturelle Bildung eröffnet Kindern solche Erfahrungsräume, in denen sie ihr Wissen erweitern und ihre Kompetenzen entwickeln können. Eine Besonderheit ist, dass sie in vielen Aspekten der Art und Weise entspricht, wie jüngere und auch ältere Kinder sich Welt aneignen. In der gemeinsamen Auseinandersetzung in und mit den Künsten erleben sie sich als kreativ, einzigartig und wirksam. Sie schärfen ihre Wahrnehmung, erweitern ihre Ausdrucksmöglichkeiten und setzten sich mit den Meinungen und Perspektiven anderer auseinander. Und weil sie selbst künstlerisch tätig sind, erhalten sie Anerkennung, tanken Selbstbewusstsein und werden in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestärkt.

Kulturelle Bildung unterstützt Kinder und Jugendliche aber nicht nur darin, Krisen erfolgreich zu bewältigen, sondern vermittelt ihnen vieles von dem, was sie für ein erfülltes und eigenständiges Leben benötigen. Daher wird sie als wichtiger Baustein einer guten und ganzheitlichen Bildung jetzt genauso dringend benötigt wie in der Vergangenheit und der Zukunft.

Kulturelle Bildung fördert Teilhabe und gesellschaftlichen Zusammenhalt

Im Bereich der kulturell-ästhetischen Bildung gibt es kein Richtig und kein Falsch. Sie ist immer individuell und subjektiv, findet aber in Gemeinschaft statt und fördert Teilhabe. Denn kulturelle Bildung ermöglicht Kindern und Jugendlichen vielfältige Zugänge zu Kunst, Kultur und Gesellschaft – sei es im eigenen Tun, in der Begegnung mit Künstler:innen oder bei der Erkundung von Kunst- und Kulturinstitutionen, Natur und Alltagsphänomenen.

Eine weitere Stärke kultureller Bildung liegt darin, dass junge Menschen nicht nur viel über sich und die Welt erfahren, sondern eine Gemeinschaft erleben, in der die Vielfalt von Fähigkeiten, Sichtweisen und Meinungen kein Nachteil, sondern ein Gewinn ist. Deshalb ist kulturelle Bildung eng verknüpft mit wichtigen Fragen und zentralen Anliegen einer zeitgemäßen Demokratiebildung.

Auch hier wird deutlich, warum gute Angebote kultureller Bildung in und nach der Corona-Pandemie so wichtig sind: Sie fördern Zusammenhalt, stärken das Miteinander und ermöglichen jungen Menschen (wieder) gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe.

Kulturelle Bildung ist kein Zugeständnis, sondern ein Kinderrecht

Insofern stellt sich die Frage nicht, ob wir kulturelle Bildung brauchen, schaffen oder uns gerade leisten können. Die Frage muss lauten: Haben alle Kinder die Möglichkeit, ästhetische Erfahrungen an und mit Kunst und Kultur zu sammeln – unabhängig von Herkunft, Wohnort, sozialer Lage, Kultur-, Schul- oder Kita-Angebot? Denn das ist ihr gutes Recht. Unsere Verantwortung besteht darin, es durchzusetzen.

Unser Gastautor: Andreas Knoke ist Leiter der Programmabteilung der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören u.a. die kulturelle und die frühe Bildung. Er gehört zu den Mitbegründern des Netzwerks Frühkindliche Kulturelle Bildung.