Kinder müssen nichts lernen

Kinder müssen nichts lernen
© Jessica Schäfer

Im Gespräch mit Nira Priore Nouak, zeitgenössische Tanzpädagogin und Leiterin der Tanzvermittlung für das Hessische Staatsballett. Außerdem leitet sie seit zehn Jahren die Weiterbildung KitaTanz. Hier spricht unsere Netzwerkende FKB über den Stellenwert von Tanz und Bewegung in der frühkindlichen kulturellen Bildung, gibt Einblicke in ihre berufliche Praxis und lässt dabei auch die Folgen der Corona-Pandemie nicht aus.

Liebe Nira, gibst du uns bitte zunächst einige Informationen zu deiner Person?

Klar. ich bin in São Paulo, Brasilien geboren, mit 6 Jahren habe ich meine klassische Tanzausbildung in der Royal Academy of School begonnen und schließlich meine ersten professionellen Erfahrungen gesammelt.

Schon als ich klein war, wollte ich in ein anderes Land gehen, andere Sprachen lernen und das natürlich durch den Tanz. So ging ich nach Deutschland und arbeitete als Tänzerin in verschiedenen Theaterhäusern, später als Ballettmeisterin für einige Tanzensembles (u. a. Staatstheater Darmstadt). Im Rhein-Main-Gebiet habe ich in einigen Tanzschulen unterrichtet und parallel andere Interessen verfolgt, z. B. lernte ich die deutsche Gebärdensprache und nahm das Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie an der TU Darmstadt auf.

2003 habe ich die ersten Erfahrungen mit somatischen Techniken gemacht, die mit der frühkindlichen Bewegungsentwicklung arbeiten. Um dies umzusetzen, habe ich den Schwerpunkt meiner Arbeit auf Kindergärten gelegt.

Im Jahr 2009 wollte ich etwas Neues lernen, etwas ändern in meiner Vermittlungsweise, so absolvierte ich den Master of Arts Contemporary Dance Education (MA CoDE) an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main (HfMDK). Daraus ist die Zusammenarbeit mit der Crespo Foundation und der Tanzplattform Rhein-Main entstanden, u. a. die Entwicklung der Weiterbildung KitaTanz.

Um die Bewegungsarbeit mit Kindern noch mal anders zu verstehen, habe ich die Ausbildung zur Lern- und Entwicklungsbegleiterin am Institut für Bewegung- und Lernentwicklung (IBL) in Hamburg gemacht und später das Weiterbildungsprogramm für Kunst- und Kulturschaffende mit dem Schwerpunkt zeitgenössische Tanz-, Theater- und Performancekunst im Rhein-Main-Gebiet.

Heute bin ich als Leitung der Tanzvermittlung für das Hessische Staatsballett tätig u. a. und leite seit 10 Jahren die Weiterbildung KitaTanz.

Ich denke, was mich antreibt, ist neues Wissen und das alte zu vertiefen. Ich wollte immer wissen, wie etwas funktioniert und was alles eingebettet ist in diesem Wissen. Ich wollte die Praxis mit der Theorie  begründen und die Theorie erlebbar machen. Das versuche ich in meiner Arbeit.

Wir wollen heute über Tanz/Bewegung in der Kita sprechen. Deshalb zu Beginn die Frage: Kinder in dem Alter sind ja ständig in Bewegung. Wieso braucht es da extra Angebote?

Das ist wirklich so, dass Kinder einen enormen Bewegungsdrang haben und wir wissen, dass sie im Spiel ihre Umwelt und die Welt erkunden. Da wir sagen können, dass Bewegung nicht Tanz ist, aber Tanz Bewegung impliziert, müssten wir Tanz differenzieren.

Ich könnte natürlich aufzählen, „wofür“ Tanz gut ist oder „was“ es fördert, z. B. von den motorischen Fähigkeiten bis zur Resilienz und Vorstellungskraft. Dann sind da noch die verschiedenen Bereiche zwischen den affektiven, individuellen, sozialen Ebenen, die zusammenkommen. Was Tanz ins Zentrum rückt, ist der Prozess der ästhetischen Erfahrung und die Auseinandersetzung nur mit dem Körper und dessen Ausdruck, es ist nichts dazwischen. Das heißt, hier ist die gesamte Person unmittelbar beteiligt. Aber eigentlich denke ich immer, Tanz/Kunst kann für sich selbst stehen.

Wie sehen Tanz-/Bewegungsangebote in der Kita genau aus?

Angebote, in denen das passiert, sind die, die von vornherein eine ästhetisch­-sinnliche Erfahrung in den Vermittlungskonzepten integriert haben. Für mich heißt das, dass die Erzieher:innen eine aktive Auseinandersetzung mit dieser Kunstform fördern, den Tanz in verschiedene Ebenen der Vermittlung einbringen, durch Erforschen von Bewegung, Versprachlichen, dem Zuschauen von Tanzvorstellung und gemeinsamen Reflektieren mit den Kindern usw.

In den letzten Jahren hat sich einiges verändert, finde ich. Aber in den Kindergärten, in denen ich gearbeitet habe und bei den Erzieher:innen, Lehrkräften, Pädagog:innen, denen ich in der Weiterbildung KitaTanz begegnet bin, gibt es meiner Erfahrung nach noch sehr qualitativ unterschiedliche Angebote.

Die Tanz-Angebote variieren sehr zwischen: Wir haben keinen Raum, also bewegen wir uns in einem Raum voller Turn- und Möbel; wir haben einen Raum für Tanz, aber keine Zeit oder wir arbeiten mit Video-Clips – nicht, weil so ein gutes Angebot entsteht – sondern weil es einfacher ist. Ich weiß, es braucht viel Zeit, sich mit Musik zu beschäftigen, Vorbereitung, Nachbearbeitung  –  das ist nicht einfach im Kindergartenalltag.

Was genau erlernen oder erfahren Kinder in den Angeboten?

Vielleicht ist das Wort „erfahren“ besser als „erlernen“. Kinder müssen nichts lernen! Sie sollten einen Raum und viel Zeit bekommen, ihre Eindrücke und Erfahrungen vom Selbst, den anderen und der Welt in Ausdrücke zu bringen.

Dass Kinder auf diesem Weg neue Erfahrungen und Fähigkeiten „erlernen“ ist eine schöne, natürliche Konsequenz. Ich glaube, wenn Kinder sich im frühen Alter damit auseinandersetzen, wird ihnen ein bewusster Umgang mit der Welt ermöglicht – ich finde einen Platz für mich (wirklicher Raum!), ich finde eine Sprache für meine Gedanken und einen Ausdruck für meine Überzeugungen.

Ich bin überzeugt davon, dass Bewegung unsere erste Ausdrucksform ist, lange vor der Sprache. Mit Bewegung speichert sich folgendes in unserem Gehirn: das Bewusstsein für meinen Körper (womit ich mich physisch ausdrücke auf der Welt), das Gefühl für Raum (wo ist oben, unten und wie nah ist der Andere) – so erfährt ein Kind, dass Denken und Handeln zusammengehören. Und durch Tanz verbindet sich diese „Funktion“ mit „Expression“.

Wie würdest du den Stellenwert von Tanz/Bewegung in der frühkindlichen kulturellen Bildung beschreiben?

Dass Tanz einen anderen Stellenwert haben sollte, habe ich oben schon erwähnt. Wenn er nach außen anerkannt wäre, würde er in Beschreibungen nicht immer an zweiter Stelle kommen – Musik und Tanz, Rhythmik und Tanz, Bewegung und Tanz.

Also, was zeigt das?  Dass der Tanz nicht alleinstehen kann – was das Gegenteil meiner Überzeugung ist. Aber so lese ich es in Bildungs- und Erziehungsplänen vieler Bundesländern. Sie gestalten sich sehr unterschiedlich: In einigen stehen Musik und dann Tanz als Begleitung von Musik (Hessen), andere differenzieren etwas mehr (Bayern). Also, um über den Stellenwert von Tanz in der Gesellschaft zu sprechen, müsste meiner Meinung nach auf einer anderen Ebene gesprochen werden: einer politischen.

Es könnte mit der Lern- und Lehrkultur beginnen, in der Ausbildung von Erzieher:innen. Meiner Meinung nach fehlt öfter ein differenzierter Blick, eine bewusste Arbeit mit Tanz- und Bewegung, in der ein Grundwissen über den Köper vermittelt wird; in der über die Qualität von benutzter Musik und von dem Einfluss von Raum gesprochen wird. Dies sollte eine Voraussetzung einer Bildungsinstitution sein.

Unser Leben hat sich in den letzten Monaten sehr verändert – auch oder gerade Kinder müssen ja wegen Corona mit vielen Einschränkungen leben: Zum Beispiel darf in vielen Einrichtungen nicht mehr gesungen werden. Sind Bewegungs-/Tanzbewegung auch von den Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie betroffen?

Ja, sehr. Eigentlich stehen wir am Ende der Kette, nach dem Singen. Es ist sehr schwierig mit kleinen Kindern unter Einhaltung Hygienemaßnahme – dem Nicht-Bewegen und Nicht-Berühren – zu arbeiten. Hier schalten sich schon einige Sinne aus, die für den Tanz inhärent sind. Das Zusammenwirken der Sinneswahrnehmungen durch Bewegung, Musik, Körper, Spiel und Sprache fällt aus.

Wie sieht die Realität in den Kitas mit Corona aus?

Ich denke, die Menschen werden aus der Krise heraus kreativ. Wir haben uns Gedanken gemacht, wie Räume aussehen könnten, wie können wir über den Körper erzählen und haben uns andere Ebenen der Tanzvermittlung überlegt, also über Tanz sprechen, Tanz sehen (filmisch), zeichnen, usw.

Zurzeit sind die Kitas glücklicherweise offen* – lass uns noch kurz über den Lockdown im Frühjahr 2020 sprechen, als Kitas und Schulen geschlossen waren. Viele Angebote wurden damals ins Internet verlegt. Im Bereich Tanz, vor allem mit sehr jungen Kindern stelle ich mir das aber schwierig vor. Gab/gibt es trotzdem Online-Angebote? Und wie wurden sie angenommen?

Hm. Ja, es gab viele Angebote. Sicherlich viele gute. Aber meiner Meinung nach war es eigentlich ein inflationäres Angebot. Am Anfang wurden viele Angebote geschaut, aber es hat mit der Zeit nachgelassen. Es waren teilweise die Kinder selbst, die nicht lang vor dem Bildschirm ausgehalten haben. Ein realer Spaziergang im Wald war immer noch spannender! Diese Angebote funktionierten nur für Kinder, die mit einem Elternteil oder einer Bezugsperson zu Hause waren, die nicht mit den Fragen der Differenzierung – für wen, was können kleine Kinder „mitmachen“. Können/sollen Eltern zeigen, anleiten, vorschlagen und wenn, wie? – überfordert waren.

Kann es gute Onlineangebote für Kinder geben und wie müssten sie aussehen?

Wir haben relativ spät auch einige Videos gemacht. Ich wollte den Eltern oder auch Erzieher:innen Ideen und Anregungen anbieten. Einige Videos sind gut gelungen, andere weniger. Da merkt man, wie sich die Rezeption von realen/live Angeboten von der Rezeption virtueller Angebote unterscheidet.

Ich habe zum Beispiel ein Angebot mit Materialien gemacht. Zuerst habe ich einige Objekte gezeigt, die jeder zu Hause hat. Dann habe ich durch Fragen versucht die Eltern/Kinder/Erzieher:innen dazu anzuregen, selbst zu versuchen, wie jedes Material anders „klingt“ (Zeitungspapier) oder rollt (ein Apfel) kann. Danach habe ich Anregungen zum selbst ausprobieren gegeben. In anderen Videos standen bestimmte Körperteile im Fokus, Füße, Hände etc.

Was wünschst du dir für den Bereich Tanz/Bewegung und frühkindliche kulturelle Bildung für die Zukunft? Wo siehst du Handlungsbedarf?

Ich denke, der größte Bedarf ist, in der Ausbildung von Erzieher:innen und pädagogischen Lehrkräften ein Lehren- und Lernen mit dem ganzen Körper zu verankern.

Das ist die nächste Ebene, in der wir mit der Weiterbildung KitaTanz arbeiten. Wir möchten ab August 2021 eine Qualifizierung für Referent:innen, ein Train the Trainer, entwickeln, mit der wir die Qualität und Professionalisierung der Vermittlungspraxis im Elementarbereich sichern möchten. Mit diesem Curriculum möchten wir Kooperationen in Ausbildungsstätten anbieten.

*Das Interview wurde im Herbst 2020 geführt.