„Eine der großen Qualitäten des Netzwerks FKB ist die gelebte Multiperspektive“

„Eine der großen Qualitäten des Netzwerks FKB ist die gelebte Multiperspektive“

Seit vier Jahren setzen wir uns im Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung dafür ein, dass auch junge Kinder in den ersten sechs Lebensjahren Zugang zu Kunst und Kultur erhalten und ästhetisch-kulturelle Erfahrungen machen können – mit inzwischen mehr als 280 Netzwerkenden. Zeit, einen Blick auf aktuelle Perspektiven und Entwicklungen zu werfen. Dazu haben wir mit Mitwirkenden aus drei verschiedenen Praxisfeldern gesprochen: Astrid Lembcke-Thiel (Museum Wiesbaden & freie Kuratorin), Karin Knauf (Kita Grüne Soße Frankfurt/Main) und Prof. Dr. Michael Obermaier (Katholische Hochschule NRW).

Wir starten direkt mit einer provokanten Frage: Wieso braucht es frühkindliche kulturelle Bildung (FKB)?

Astrid Lembcke-Thiel:
Diese Frage ist allerdings provokant, und zwar eigentlich nur aufgrund der Tatsache, dass sie leider immer noch gestellt werden muss. Solange es kein Selbstverständnis ist, dass zum Beispiel das Kinderrecht auf kulturelle Teilhabe eine Verpflichtung zur Erbringung höchster Qualitäten für junge Kinder ist, solange werden wir vermutlich gebetsmühlenartig erklären müssen, dass frühkindliche kulturelle Bildung einer der relevanten Faktoren ist, um unsere Gesellschaft demokratiefähig zu erhalten.

Karin Knauf:
Politisch erleben wir gerade einen erneuten Angriff auf das demokratische Grundverständnis, weil Menschen verunsichert, unzufrieden sind, sich machtlos und Vielfalt als Bedrohung ihrer eigenen Welt erleben. FKB trägt mit ihrer partizipativen Haltung und den ko-konstruktiven Prozessen dazu bei, dass Kinder sich früh als Teil der Gesellschaft erfahren. Ko-Konstruktion meint die Zusammenarbeit von Erwachsenen und Kindern auf Augenhöhe. Kunst und Kultur öffnen Dialogräume, sie bieten mit ihrem Bedeutungsüberschuss unzählige Möglichkeiten, sich zu verständigen und zu verstehen.

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Ohne an dieser Stelle auf die vielen, vom Netzwerk formulierten guten Gründe für frühe kulturelle Bildung einzugehen, sei ganz grundsätzlich angemerkt, dass dies ein anthropologisches Grundbedürfnis des Menschen ist, dessen Einlösung etwa in der UN Kinderrechtskonvention (CRC) aus dem Jahr 1989 oder im UNESCO-„Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“ aus dem Jahre 2005 rechtlich verortet ist.

Was kommt euch als Erstes in den Sinn, wenn ihr an frühkindliche kulturelle Bildung denkt?

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Da habe ich viele positiv besetzte Begriffe im Kopf wie Spiel, Freiheit, Entdeckung, Kreativität, Schöpfungsdrang, Motivation, Erlebnis, Selbstwirksamkeit, Ganzheitlichkeit oder direkte ästhetische Erfahrung.

Karin Knauf:
Kinder, die selbstbewusst und gleichberechtigt an einer Gesellschaft teilhaben. Kinder in Museen oder an anderen Orten, an denen Kinder nicht selbstverständlich anzutreffen sind. Kinder, die sich an diesen Orten selbstverständlich bewegen, sie als ihre Orte begreifen und entsprechend behandelt werden. Kinder, die ernst genommen werden und daher mit Lust ihre Lebenswelt mitgestalten.

Astrid Lembcke-Thiel:
Mir kommen als Erstes junge Kinder in den Sinn, die mit ihren klaren, offenen und forschenden Sinnen direkt schon beim Erklimmen der vielen Treppenstufen, beim Betreten des Museums, dieses auf ihre eigene Weise völlig souverän einnehmen. Diese Art, sich leiblich mit allen Sinnen, mit dem Körper zu einer Sache zu verhalten an diesem unbekannten Ort, ist unglaublich wunderbar und inspirierend.

Warum ist es wichtig, dass es das Netzwerk Frühkindliche Kulturelle Bildung (NFKB) gibt? Was kann es bewirken?

Karin Knauf:
Mithilfe des Netzwerks hoffe ich, dass es gelingt, Kinder als Bürger:innen von heute anzuerkennen. Zudem ist es notwendig, dass das die Kinder stellvertretende System Kita als Bildungsinstitution etabliert wird. Viel zu oft wird Kita zur Betreuungseinrichtung degradiert. Kinder sind nicht nur süß und niedlich, sie sind vor allem kompetente Menschen. Innerhalb des Netzwerks fühle ich mich mit meinem wertschätzenden Blick auf Kinder ehrlich ernst genommen.

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Das NFKB arbeitet spartenübergreifend und multiperspektivisch und stellt das Kind mit seinen ästhetisch-kulturellen Bedürfnissen ins Zentrum. Die vielseitige Fachkompetenz des Netzwerks fördert einen offenen Austausch und eine fundierte Diskussion über die Bedeutung der frühen kulturellen Bildung. Im Namen des NFKB streben wir danach, diesem bedeutenden Thema Gehör zu verschaffen. Wir möchten Impulse setzen und positive Veränderungen anregen.

Astrid Lembcke-Thiel:
In erster Linie ist das Netzwerk aus meiner Sicht ein Ort der Bündelung von Wirkkraft und von Empowerment in alle Richtungen und mit unterschiedlichen Perspektiven. Ohne Allianzen können wir nicht wirksam sein, und das ist es, was im NFKB in herausragender kompetenter Multiperspektive gelingt. Es gibt bei allen, mit denen ich aktiv zusammenarbeite, eine wirklich tiefe, intrinsische Motivation, das Thema voranzubringen.

Was sind aus eurer Sicht aktuelle Herausforderungen in Bezug auf FKB und Netzwerk?

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von FKB ist besonders im Hinblick auf die zunehmende Entpolitisierung in der Öffentlichkeit angekommen – gerade in ihrer enormen Bedeutung für die demokratische Zukunft unseres Landes, denn frühkindliche kulturelle Bildung ist gleichzeitig politische Bildung. Hier gilt es, fachlich fundierte und alltagstaugliche Konzepte für die kindheitspädagogische Praxis anzubieten.

Karin Knauf:
Grundsätzlich sehe ich als problematisch an, dass das gesamte Bildungssystem in Deutschland – nach meinem Erleben – kurz vor dem Kollaps steht. Bildung ist politisch gesehen zwar in aller Munde, wird aber gefühlt immer nachrangig behandelt. Der Fachkräftemangel im Kitabereich ist ein großes Thema, allerdings hauptsächlich, weil es dadurch zu wenige Kitaplätze gibt und Eltern drohen, dadurch dem Arbeitsmarkt zu fehlen. Entsprechend wenig wertgeschätzt fühlen sich Menschen, die mit Kindern arbeiten, entsprechend wenige entscheiden sich für einen solchen Beruf. Eine Spirale abwärts. Das NFKB kämpft ebenfalls um die Anerkennung und setzt sich für eine nachhaltig stabile Struktur und Finanzierung ein. Das Engagement für frühe kulturelle Bildung sollte nicht auf Ehrenamt basieren müssen.

Astrid Lembcke-Thiel:
Fragen, die für alle Netzwerke, Systeme und Organisationen immer von Bedeutung sind, wie: „Wer entscheidet?“ und „Wer ist verantwortlich?“ gemeinsam zu bearbeiten, lässt sich im NFKB sehr gut üben, denn Netzwerke sind aus meiner Sicht relevante und vor allem agile Systeme der Zukunft. Ich denke, dass grundsätzliche Fehlerfreundlichkeit, Prozessvertrauen, Erfahrungen von Irritation und Mut zur Berührbarkeit, man könnte auch sagen: Mitmenschlichkeit – übrigens alles Aspekte künstlerisch-kulturellem Handelns – uns weiterbringen im Aushandeln von Strukturen und Bedingungen des Aufwachsens junger Kinder in dieser Gesellschaft.

Was ist eure Motivation, im Netzwerk mitzuwirken, und welche Perspektiven bringt ihr ein?

Astrid Lembcke-Thiel:
Meine Motivation erschließt sich geradezu perfekt aus diesem Bild. Ich habe mich immer wie die dritte Person rechts gefühlt:

Zeichnung von Astrid Lembcke-Thiel zur Frage der Motivation, im Netzwerk FKB mitzuwirken. Die Zeichnung basiert auf einer Illustration von Lisa Aisato.
Zeichnung: A. Lembcke-Thiel nach einer Illustration von Lisa Aisato

 

Dementsprechend möchte ich Einfluss nehmen, dass Entscheider:innen erfahren und sich selbst davon befreien, mit erlernten Maßstäben zu bewerten. In meiner Arbeit und meinem Engagement für die FKB geht es um einen künstlerisch-wunderforschenden Blick auf unser Handeln und Denken.

Karin Knauf:
Ich liebe es, gemeinsam mit Menschen verschiedenster Professionen die Kinder in den Blick zu nehmen. In der Kita Grüne Soße arbeiten wir ressourcenorientiert, ich muss nicht alles allein können. Ebenso empfinde ich auch die Arbeit im Netzwerk. Wir werfen unsere verschiedenen Kompetenzen und Perspektiven zusammen und schaffen es hoffentlich damit, dass sich der gesellschaftliche (und auch politische) Blick auf Kinder in unserem Sinne verändert.

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Meine persönliche und fachliche Motivation speist sich aus der Überzeugung, dass FKB der entscheidende Zugang ist, um Adultismus abzubauen, Kinderrechte zu realisieren sowie Chancen- und somit Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen. Konkret vertrete ich im Netzwerk den Modernen Tanz, der übrigens letztes Jahr in die repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen wurde. Warum? Weil der Moderne Tanz als eine Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen überschreitende künstlerische Artikulationsform betrachtet wird und das Potenzial hat, Inklusion, Partizipation und Frieden zu stiften.

Das NFKB kooperiert mit dem Programm Kulturkita Hessen, aktuell wird ein Orientierungsrahmen als Grundlage für die Arbeit der beteiligten pädagogischen Fachkräfte erarbeitet. Ihr seid Teil des Expert:innen-Gremiums. Könnt ihr beschreiben, was das Besondere an dieser Entwicklungsarbeit ist? Welche Rolle spielt dabei das NFKB?

Karin Knauf:
Das Besondere an der Entwicklungsarbeit ist, dass verschiedene Perspektiven und Expertisen in den Orientierungsrahmen einfließen – von Kulturinstitution, Ausbildungsstätten für pädagogische Fachkräfte, Trägern und Kita. Somit schreiben wir mit und für die zukünftigen Zielgruppen, was aus meiner Erfahrung zielführend ist.

Astrid Lembcke-Thiel:
Uns hat beim letzten Arbeitstreffen alle gleichermaßen begeistert, oder vielleicht auch in ein Staunen versetzt, dass es uns tatsächlich komplett gelingt, einander ohne hierarchisches Machtverhalten zu begegnen. Das spricht aus meiner Sicht dafür, dass uns alle eine Haltung zum Thema FKB verbindet, die im Netzwerk und auch in diesem Gremium aus Netzwerk-Mitgliedern und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gelebt wird. Das wiederum ist für mich eine der großen Qualitäten des NFKB – die gelebte Multiperspektive.

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Ich bin froh und dankbar, Teil dieser Entwicklungsarbeit zu sein. Denn in diesem Prozess wird das gelebt, was im Kontext ästhetisch-kultureller Bildung immer wieder eingefordert wird: Prozessorientierung, ergebnisoffener Diskurs auf Augenhöhe oder Lust und Mut zur kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit anderen Vorstellungen. Sicher, dies ist mithin langwierigerer und kontroverserer als in einer ergebnisfixierten Konsenskultur. Im Endeffekt aber, wenn man die anderen und sich selbst ernst nimmt, kann es nur so gehen, und das macht das Besondere aus; eine tolle Erfahrung.

Ein Blick in die Zukunft: Was wünscht ihr euch für das NFKB in weiteren vier Jahren?

Astrid Lembcke-Thiel:
Das fällt mir richtig schwer. Ich bin ein Mensch des Jetzt. Vielleicht einen Sitz im Bundesparlament? Dass alle relevanten Bildungspolitiker:innen um Aufnahme ins NFKB bitten? Unendliche Aufträge zur Beratung in politischen Bildungskontexten mit signifikantem Einfluss für die frühe Bildung? Dass es bundesweit nur noch Kulturkitas gibt? Dass jeder Mensch, so wie man weiß, dass man bei Rot nicht über die Ampel geht, weiß, was FKB ist? …

Karin Knauf:
Mein Wunsch ist, dass wir in vier Jahren sagen können:

  • Das NFKB besitzt nachhaltig stabile Strukturen und eine gesicherte Finanzierung.
  • Die Kinderrechte sind im Grundgesetz verankert.
  • Wir sind einen großen Schritt weiter hinsichtlich der Lobbyarbeit für Kinder und ihre Bildungssysteme.
  • Kulturinstitutionen, Kunstvermittelnde, Künstler:innen sind ebenfalls Teil dieses Bildungssystems und erfahren entsprechende Wertschätzung in Form unkomplizierter und regelmäßiger Finanzierungskonzepte ohne Förderantragskämpfe.
  • Das NFKB ist gesellschaftlich und politisch etabliert als Expert:innenpool für FKB und hat seine Mitgliederzahl verdoppelt – insbesondere pädagogische Fachkräfte sind stärker vertreten.

Prof. Dr. Michael Obermaier:
Da muss ich mich wirklich kurzfassen, denn meine Liste wäre sehr, sehr lang, angefangen von der Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz bis hin zur Stärkung kultureller Bildung in nahezu allen kindheitspädagogischen Bezügen. Am meisten aber wünsche ich uns allen, dass diese so positive Strahlkraft und unglaubliche Power des Netzwerks nicht verloren geht, weiterhin mit überzeugten und engagierten Menschen aus den Bereichen Kunst, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Politik aktiv zu sein, um die Bedeutung kultureller Bildung in der frühen Kindheit zu stärken und die Rechte der Kinder einzulösen.